Annalenas Vater hob sein Sektglas: „Auf meine Tochter, die von heute an in meine Fußstapfen treten wird. Ich kann dir gar nicht sagen, wie stolz ich auf dich bin, Lenchen.“
Annalena lächelte verlegen, als ihre Mutter, ihr Bruder, ihre Tante und deren Familie ihr zuprosteten: „Auf Lenchen!“
„Schon die dritte Kardiologin in unserer Familie“, sagte ihre Mutter stolz. Sie schien sich für den heutigen Abend besonders hübsch gemacht zu haben. Von Anfang an hatte sie Annalena beigebracht, wie wichtig es war, dass sie gut aussah. Die Hälfte des Erfolgs war geschafft, wenn man ordentlich wirkte.
„Und außerdem hat Lenchen mir gesagt, dass sie uns heute Abend noch jemand ganz besonderen vorstellen will“, fuhr ihre Mutter Augenzwinkernd fort. Annalena wurde noch ein bisschen unwohler. Wahrscheinlich würde sie zum Essen nachher keinen Bissen herunterbringen.
„Willst du es wirklich durchziehen?“, hatte Michi vorhin noch gefragt. Annalena hatte nur genickt. Es war höchste Zeit, dass sie ihre Eltern endlich mit der Liebe ihres Lebens bekannt machte. Aber genau davor hatte sie Angst.
Ihre Eltern hatten sehr klare Vorstellungen von dem was sich gehörte und was nicht. Und Michi entsprach dieser Vorstellungen definitiv nicht. Am besten sollte sie es abblasen. Eine Ausrede erfinden. Das war einfach. Einfacher, als ihre Eltern mit Michi zu konfrontieren und dann den Rest ihres Lebens mit ihnen verwandt zu bleiben.
Ja, am besten jetzt, solange es noch ging. Michi würde verstehen.
Annalena blickte auf die erwartungsvollen Gesichter ihrer Verwandten, die überraschte Miene ihres Bruders und ihre vor Stolz strahlenden Eltern. Selbst Rascal der Familienhund schien sich für sie zu freuen. Nun, ihnen allen stand zweifellos eine große Überraschung bevor.
Sie sah sich im Wohnzimmer um. Weiße Wände, blütenweiße, bodenlange Vorhänge vor den Fenstern, ein Kronleuchter aus Glas und ein Klavier. Spießig bürgerlich, würde Michi dazu sagen. Irgendwie empfand Annalena es inzwischen auch so.
Früher hatte sie nie darüber nachgedacht. Dies war ihr zu Hause gewesen. Seit sie ausgezogen war und ihr Studium begonnen hatte, fühlte sie sich hier nur noch wie ein Gast. Nicht mehr, wie ein Bewohner.
„Wann kommt er denn?“, fragte ihre Tante neugierig.
„Jeden Moment“, sagte Annalena und lächelte tapfer. Wahrscheinlich glühte sie inzwischen wie eine Tomate. Hoffentlich trug Michi etwas Anständiges und nicht diese alte Lederjacke. Vielleicht half ein anständiges Äußeres ja ihren Eltern, die Neuigkeit besser zu verdauen. Die Hälfte des Erfolgs war geschafft, wenn man ordentlich wirkte.
„Wir sind auch schon ganz gespannt“, sagte ihre Mutter. „Unser Lenchen will uns ja nichts zu dem großen Unbekannten sagen.“ Sie zwinkerte wieder. Fast führte sie sich wie ein Teenager auf.
„Nun lasst doch das Geschwätz“, ging ihr Vater dazwischen. „Lenchen soll sich erst einmal auf ihre Arbeit konzentrieren. Die Arbeit am Uniklinikum ist kein Zuckerschlecken, dass sag ich euch.“
Aber ihre Mutter und ihre Tante waren nicht davon abzubringen. Annalena war jetzt sechsundzwanzig und hatte noch nie einen Freund mit nach Hause gebracht. Michis Ankunft wurde als größeres Ereignis gehandelt, als ihre abgeschlossene Ausbildung und ihre Einstellung an der Uniklinik.
Da klingelte es. Rascal hob den Kopf und bellte kurz.
„Möchtest du nicht aufmachen?“, fragte ihre Mutter. Annalena war froh, dass sie ihr das Angebot machte, für einen kurzen Moment aus dem Sperrfeuer ihrer Blicke zu kommen.
Noch war es nicht zu spät. Sie könnte behaupten es wäre jemand anderes gewesen und Michi wegschicken.
Einerseits wünschte sie sich nichts sehnlicher, als ihre Beziehung, die immerhin schon zwei Jahre andauerte, öffentlich zu machen.
Andererseits würde dadurch alles anders. Michi hatte sie eine Schwarzmalerin genannt, aber Annalena kannte ihre Familie.
Wenn sie nur in der Lage gewesen wäre, klar zu denken, dann hätte sie vielleicht eine Entscheidung treffen können. Aber jetzt kam die Haustür viel zu schnell auf sie zu. Durch das verschwommene Glas sah sie die unverkennbare Siluette – mit der Lederjacke!
Die Familie lauschte gespannt auf die Stimmen im Flur. Annalenas Mutter hielt Rascal fest, der den unbekannten Gast aufgeregt begrüßen wollte. Schritte näherten sich dem Wohnzimmer und die Tür ging auf.
„Mama, Papa, darf ich vorstellen. Das ist Michaela, meine Freundin.“

