Triggerwarnung: In dieser Geschichte stirbt ein Kind an Leukämie.
Alle Schüler mochten Frau Hahnkuhl. In ihrem Vertretungsunterricht durften die Kinder meistens Malen und Basteln, statt öde zu lernen. Auch heute wieder, denn Frau Hahnkuhl hielt es für eine schöne Idee, dass die Kinder doch schon einmal Weihnachtsgeschenke für ihre Eltern anfertigten sollten.
Lena malte fleißig. Ihr Bild zeigte sie und ihre große Schwester Martina, wie sie vor dem Weihnachtsbaum standen und vom Weihnachtsmann ihre Geschenke bekamen. Auf die Gestaltung des Baumes war Lena besonders stolz, denn er trug all den Baumschmuck, den sie in Wirklichkeit an ihren Baum hängten.
Die großen roten Kugeln, von denen es nur noch wenige gab, weshalb ihr Lenas Vater den Baum gerne alleine schmückte. Die bunten Vögel von ihren Urgroßeltern und die kleinen silbernen Kugeln mit den weißen Mustern, die Martina so schön fand. Zwar hatte sie keines der Muster getroffen, aber man erkannte es trotzdem.
Lena legte ihren Stift zur Seite und betrachtete das Bild kritisch, ob noch etwas fehlte. Ihr fiel nichts mehr ein. Frau Hahnkuhl, der ihre Pause aufgefallen war, kam zu ihr herüber.
„Das ist aber wirklich schön geworden“, sagte sie anerkennend.
„Ja“, stimmte Lena ihr zu. „Aber ich finde, es fehlt noch etwas.“
„Wieso malst du denn nicht noch deine Mutter dazu?“, fragte Frau Hahnkuhl. „Dann sind dein Vater und du nicht so alleine.“
„Mein Vater ist doch gar nicht auf dem Bild“, sagte Lena verwirrt.
„Wer ist denn dann die kahlköpfige Person da?“, fragte Frau Hahnkuhl, mindestens ebenso verwirrt.
„Das ist meine Schwester“, sagte Lena empört. Frau Hahnkuhl sah überrascht aus: „Wieso hat denn deine Schwester keine Haare?“
„Sie ist krank. Deshalb sind sie ihr alle ausgefallen.“ Aber für Lena war es offensichtlich, dass es ihre Schwester Martina war, auch wenn sie vielleicht nicht hundertprozentig getroffen war.
„Oh“, machte Frau Hahnkuhl und sah nun betroffen drein. „Das tut mir leid.“
„Warum?“, fragte Lena. Frau Hahnkuhl schien etwas durcheinander zu kommen.
„Schon gut“, sagte sie, lächelte liebevoll und ging dann weiter zu einem von Lenas Mitschülern, der Hilfe brauchte. Lena sah ihr nachdenklich nach. Die Lehrerin konnte zwar alles erklären, wonach man sie fragte. Alles zu verstehen schien ihr aber Schwierigkeiten zu machen.
Aber dafür war ihr jetzt eingefallen, was auf dem Bild noch fehlte. Es war Monster, ihr Kater, der jedes Jahr ebenfalls Geschenke bekam.
Lena war es egal, ob Frau Hahnkuhl Martina erkannte, auch wenn die Ähnlichkeit kaum zu übersehen war. Aber das gehörte zu den Dingen, die Erwachsene irgendwie nicht hinbekamen. Als Martina vor gut einem Jahr immer schwächer geworden war und oft Nasenbluten gehabt hatte, hatte ihre Mutter versucht, es Lena zu erklären.
„Martina ist sehr, sehr krank. Es ist nicht sicher, ob sie je wieder gesund wird. Es ist nicht einmal sicher, ob sie noch lange bei uns bleibt.“ Das war eine denkbar nutzlose Erklärung, denn sie enthielt eigentlich keine Erklärung.
Martina hatte es Lena viel besser erklärt, als sie allein im Krankenhaus zusammengesessen hatten.
„Die Krankheit heißt Leukämie“, hatte sie gesagt. „In meinem Fall ist es wohl sehr kompliziert. Aber die Ärzte haben versprochen, alles zu tun, damit ich wieder gesund werde. Doch es besteht trotzdem die Möglichkeit, dass ich sterben könnte – im schlimmsten Fall.“
Damit hatte Lena wenigstens etwas anfangen können. Es hatte sie unglücklich gemacht zu hören, dass Martina sterben könnte. Aber es hatte sie beruhigt, dass ihre große Schwester so entspannt davon sprechen konnte, denn das bedeutete, dass es so schlimm nicht werden konnte.
Am Anfang war Lena sogar ein bisschen neidisch, dass Martina tagelang nicht zur Schule musste, sondern im Krankenhaus liegen und Fernsehen konnte.
Dann hatte sich aber gezeigt, dass auch ihre große Schwester nicht alles wissen konnte, denn es wurde doch schlimm. Manchmal war Lena mitten in der Nacht wach geworden, weil sich Martina im Nachbarzimmer übergab. Oft hatte sie Fieber gehabt und nicht essen mögen. Ein hoher Preis für ein paar Tage Schulfrei.
Und wenn es Martina dann besser gegangen war, hatte sie sich auch noch oft mit ihren Eltern gestritten. Die meisten der Gründe hatte Lena nie verstanden. Das tat sie bis heute nicht. Es ärgerte sie, dass sie kaum etwas mit ihrer Schwester hatte unternehmen können. Kein Schwimmen im Sommer, kein Urlaub, kein Besuch auf dem Schützenfest und auch kein Toben.
Aber mit der Zeit hatten sie sich daran gewöhnt. Martina wurde ruhiger und stritt kaum noch. Stattdessen traf sie sich hin und wieder mit Kindern, die ebenfalls Leukämie hatten und die sie im Krankenhaus kennengelernt hatte. Zombieclub nannten sie und Lena die Gruppe. Wenn der Club etwas spielte, durfte Lena meistens mitmachen.
Das war leider seit kurzem wieder vorbei. Martina war wieder im Krankenhaus und diesmal viel länger als normalerweise. Wenn Lena fragte, wann sie wieder nach Hause käme, lächelten ihre Eltern nur und sagte, sie wüssten es nicht. Lena ahnte, dass der schlimmste Fall eingetreten war, auch wenn niemand etwas derartiges sagte.
Deshalb malte sie jetzt auch das Bild von ihr, Martina und Monster, da ihre große Schwester dieses Jahr an Weihnachten wohl nicht zu Hause wäre. Denn bis Heiligabend war es nur noch eine Woche und nichts deutete darauf hin, dass Martina bald aus dem Krankenhaus käme. So hätte sie wenigstens ein bisschen Anteil an der Bescherung.
Am Nachmittag fuhren Lena und ihre Mutter zu Martina ins Krankenhaus. Im Gepäck hatten sie nicht nur Lenas Bild, sondern auch die DVD von Disneys Mulan, der einer von Martinas Lieblingsfilmen war und ein paar Kekse.
Im Krankenhaus hatte man Martina vor kurzem verlegt. Sie war jetzt auf der Intensivstation. Vor dem Zimmer gab es wie immer in der letzten Zeit eine kleine Diskussion, was mit ins Zimmer durfte und was nicht. Lenas Bild durfte glücklicherweise hinein, ebenso die DVD, aber die Kekse mussten draußen bleiben.
Anschließend mussten Lena und ihre Mutter sich blaue Papierkittel über ihre Klamotten ziehen, Papierkappen über die Haare stülpen und jede einen Mundschutz umbinden. Das alles war nötig, um das Zimmer von Martina zu betreten. Denn Martina durfte auf keinen Fall krank werden, wie man Lena erklärt hatte. Also, nicht noch kränker.
In Martinas Zimmer war es ziemlich warm und stickig, denn leider gab es keine Fenster nach draußen, nur welche zur übrigen Intensivstation. Die waren mit großen Schneeflocken beklebt, um wenigstens etwas feierliche Stimmung zu verbreiten.
Martina selbst sah so bleich und müde aus, wie schon seit einigen Tagen. Es war nur schwer vorstellbar, dass sie je wieder so gesund werden könnte, wie früher.
„Wir wollten dir eigentlich Weihnachtskekse mitbringen. Aber wir durften nicht“, entschuldigte sich Lena gleich von vornherein.
„Macht nichts, ich hab sowieso keinen Hunger“, sagte Martina. „Ich bekomme Essen durch einen Schlauch.“ Sie deutete auf den Beutel mit durchsichtiger Füllung, der an einem Ständer neben ihrem Bett hing . Rhythmisch fielen Tropfen in den Schlauch, der an Martinas Arm hing.
Lena grinste und umarmte ihre Schwester zur Begrüßung, auch wenn sie wusste, dass ihre Mutter das immer nervös machte. Vermutlich hatte sie Angst, Martina könnte auseinander brechen, so dünn wie sie inzwischen war. Ein paar Kekse hätten ihr nur gut getan.
Sie setzten sich zusammen und redeten ein bisschen, wobei insbesondere Lena und ihre Mutter erzählten und Martina im Bett lag, zuhörte, und hin und wieder die Augen schloss. Lena erzählte aus der Schule und von Frau Kuhlhahn, die Martina für ihren Vater gehalten hatte, worüber beide lachen mussten. Ihre Mutter erzählte ein bisschen von ihrer Tante und ihrem Onkel, die über Weihnachten zu Besuch kommen wollten. Sie hängten Lenas Bild gegenüber von Martinas Bett auf, wo auch einige Grußkarten des Zombieclubs hingen. Schließlich ließ ihre Mutter die beiden Mädchen alleine, die sich zusammen Mulan anschauten.
Lena durfte sogar neben Martina auf dem Bett sitzen. Es war fast wie früher, als sie zusammen auf dem Bett ihrer Eltern gesessen und Filme geschaut hatten. Nur dass Martina diesmal zwischendurch einschlief. Sie wachte erst wieder auf, als Lena aufstand, um die DVD wieder aus dem Rekorder zu holen.
Danach setzte sie sich wieder zu ihrer Schwester aufs Bett und beide schwiegen eine Weile. Nur das Piepen des EKGs neben dem Bett unterbrach die Stille.
„Glaubst du, du bist noch da, wenn Tante Yvonne und Onkel Karl zu Besuch kommen?“, fragte Lena irgendwann.
„Ich glaube nicht“, sagte Martina und zupfte ihre Decke unter Lena hervor.
„Heißt das, dass du dann tot bist?“
Martina nickte.
„Und man kann gar nichts mehr machen?“
Martina schüttelte den Kopf und Lena starrte niedergeschlagen zu Boden. Sie wusste zwar nicht ganz genau, was der Tod war, aber sie wusste, dass es bedeutete, ihre Schwester nie wieder zu sehen. Das konnte und das wollte sie sich nicht vorstellen.
„Glaubst du, dass es schlimm wird?“
„Sterben? Nein, glaub ich nicht“, antwortete Martina, richtete sich etwas auf und zog sich die Decke bis ans Kinn. „Ich habe mal nachgefragt. Es gibt Leute, die fast gestorben wären. Es war wohl nie schlimm für sie. Stattdessen hatten sie das Gefühl, dass auf der anderen Seite Verwandte und Freunde gewartet haben, die schon gestorben waren. Sie hatten sich richtig wohl gefühlt.“
„Meinst du, du siehst dann Oma wieder?“, fragte Lena überrascht. Ihre Oma war vor drei Jahren gestorben, ebenfalls an Krebs, wenn auch nicht an Leukämie.
„Vielleicht. Man kann nie wissen. Das ist ja das Spannende daran.“ Martina grinste. Lena dachte darüber nach. Wenn man es so betrachtete, war sterben vielleicht gar nicht so schlimm.
„Glaubst du, du kommst in den Himmel?“, fragte sie.
Martina zuckte mit den Achseln und grinste: „Hoffentlich. Wenn es einen gibt.“
„Wirst du dann zu einem Engel?“
„Klar“, sagte Martina und lachte. „Ich und Oma zusammen. Wir kommen dann runter und passen auf, dass du keinen Blödsinn machst.“
„Ich mach nie Blödsinn“, meinte Lena beleidigt, auch wenn das eine Lüge war, wie sie selbst wusste. Aber dann lächelte sie: „Schade, dass ich dann nicht mehr mit euch sprechen kann.“
„Ja“, sagte Martina und hielt die offene Hand hoch. Lena griff sie und dann saßen sie wieder eine Weile schweigend zusammen.
„Wenn du vor Weihnachten stirbst, wirst du vielleicht ein Weihnachtsengel“, sagte Lena plötzlich.
„Du hast recht“, sagte Martina. „Dann kann ich euch jede Weihnachten besuchen kommen! Dann
komm ich hier endlich wieder raus. Ich würde gerne wieder raus.“
„Darfst du denn nicht?“
Martina schüttelte unglücklich den Kopf.
„Da verpasst du aber im Augenblick auch nichts“, versuchte Lena sie zu trösten. „Draußen ist es nur kalt und nass und bewölkt. Es gibt nicht mal Schnee. Kannst du nicht dafür sorgen, dass es anfängt zu schneien, wenn du in den Himmel kommst?“
„Klar“, versprach Martina und drückte Lenas Hand.
In diesem Moment kam ihre Mutter wieder zurück, um Lena wieder abzuholen.
Fünf Tage später, einen Tag vor Heiligabend, fuhr Lena wieder ins Krankenhaus. Am Tag zuvor war sie bis zum Abend geblieben, ehe sie sich von Martina verabschieden musste. Ihre große Schwester hatte eigentlich die ganze Zeit geschlafen, aber Lena war sich sicher, dass sie es doch bemerkt hatte.
Inzwischen waren Tante Yvonne und Onkel Karl zu Besuch und hatten auf sie aufgepasst, denn ihre Eltern waren die Nacht über im Krankenhaus geblieben. Lena wäre am liebsten auch geblieben, aber sie hatten es ihr nicht erlaubt. Stattdessen fuhr sie am nächsten Tag mit ihren Verwandten wieder hin.
Noch bevor sie in Martinas Zimmer war, wusste sie, was passiert war. Sie hatte es gestern Abend schon geahnt, als sie die Bescherung vorverlegt hatten. Zu fünft hatten sie um Martinas Bett gestanden und Weihnachtslieder gesungen und ein paar Kekse gesessen, die plötzlich in ihrem Zimmer nicht mehr verboten gewesen waren. Sie hatten auch keinen Mundschutz mehr tragen müssen.
Martina lag noch immer im Bett und auf den ersten Blick sah es so aus, als würde sie noch immer schlafen. Doch da bemerkte Lena, wie still es war.
Ihre Eltern standen aneinander gelehnt neben dem Bett, beide mit geröteten Augen, aber tröstendem Lächeln. Ihre Tante und ihr Onkel sagten auch nichts, sondern standen ähnlich da, wie ihre Eltern. Aber das war es nicht, was Lena störte, denn diese Art von Stille war sie gewöhnt.
Das EKG schwieg. Es war abgeschaltet worden. Der Tropf stand still und war von Martinas Arm entfernt worden.
Lena machte ein paar Schritte vor und nahm wie gewohnt die Hand ihrer Schwester, auch wenn diese sie ihr diesmal nicht hingehalten hatte. Sie war kalt und trocken. Jetzt war sie also auf der anderen Seite.
„Weißt du“, sagte Tante Yvonne leise und trat langsam hinter Lena. „Das was du siehst, ist nur der Körper deiner Schwester. Aber ihr Geist ist jetzt im Himmel.“
„Das weiß ich doch“, erwiderte Lena und streichelte Martinas Hand. „Sie hat mir versprochen, bald wiederzukommen. Und sie wollte Oma mitbringen.“
Tante Yvonne schaute etwas verdutzt drein, aber ihre Eltern lächelten ein bisschen erleichterter. Ihr Vater stellte sich neben sie und legte ihr eine Hand auf die Schulter.
„Sie hat mir versprochen, dass sie nach Schnee fragt, wenn sie in den Himmel kommt.“
Ihr Vater lachte leise und drückte sie an sich: „Dann bin ich ja mal gespannt.“
So standen sie lange da, bis Lena irgendwann Martinas Hand wieder vorsichtig auf die Decke legte und sich von ihren Eltern und dann von ihren Verwandten umarmen ließ. Es wurde kaum gesprochen. Zu machen Dingen konnte man nichts sagen, weil es keine passenden Wörter gab. Das wusste sogar Lena. Stattdessen putzten sich die Erwachsenen die Nase.
Schließlich wurde es Zeit, sich wieder zu verabschieden. Lena ließ ihre Schwester nur sehr ungerne alleine. Andererseits hatte sie Hunger bekommen, denn sie waren ohne Frühstück losgefahren. Zu ihrer Verlegenheit knurrte ihr Magen laut, obwohl es eigentlich Martina war, um die es hier ging. Ihre Mutter warf ihr einen überraschten Blick zu und lächelte dann.
„Ich glaube, es wird wirklich Zeit, dass wir wieder gehen. Wenigstens für eine Weile.“
Schweigend verließen sie das Zimmer und Lena drückte noch ein letztes Mal die Hand ihrer Schwester.
„Worauf hast du denn Appetit?“, fragte ihre Mutter.
„Ich weiß nicht“, sagte Lena, der es unangenehm war, dass ihr Magen so lautstark nach Aufmerksamkeit verlangte und von Martinas Aufstieg in den Himmel ablenkte.
„Wie wäre es, wenn ich etwas koche“, schlug Tante Yvonne vor, als sie aus dem Haupteingang des Krankenhauses traten.
Lena wollte gerade antworten, als etwas an ihrem Gesicht vorbeitrudelte. Sie streckte die Hand aus und Schneeflocken landeten darauf und schmolzen. Sie hob den Kopf und sah noch viele, viele weitere Schneeflocken, die zwischen dem grauen Himmel und dem grauen Boden in der Luft tanzten.
„Na sowas“, sagte Onkel Karl, während die anderen überrascht nach oben schauten. „Es schneit!“
Lena drehte sich zu ihm um und lächelte triumphierend: „Ich habe es euch doch gesagt.“